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Die Welt, voller Paradoxien

29 Jul 15
Kuno Roth

Ein interessantes, manchmal schwer zu begreifendes Phänomen sind paradoxe Wirkungen. Als solche bezeichnet man Effekte, die das Gegenteil dessen wurden, was Absicht war. JedeR kennt sie aus dem Alltag. So bewirkt beispielsweise die Aufforderung aufzuhören, an etwas Bestimmtes zu denken, gerade erst recht, genau das zu tun. Trotz ist auch ein Paradox: Man sät Kritik und wohl gemeinte Vorschläge, erntet aber oftmals Widerstand.

Auch im politischen Geschäft kennt man solche Effekte. Ein Paradox gibt es zum Beispiel in jedem Abstimmungs­kampf: Startet die SVP eine ihrer Nein-Kampagnen, lanciert sie gleichzeitig ungewollt, aber unvermeidlich bei der Linken eine Ja-Kampagne. Diese wird sozusagen paradox mobilisiert. Und wird die gegenteilige Nebenwirkung stärker als der beabsichtigte Haupteffekt, spricht der Volksmund von «kontraproduktiv».

Was kurzfristig schwächt, stärkt womöglich langfristig

Ein krasses Beispiel dafür kommt aus einer tschechischen Stadt, in der vor wenigen Jahren Neonazis ein Roma-Quartier stürmten und eine Strassenschlacht mit der Polizei anzettelten. Sie erreichten zwar damit, dass sie landesweit bekannt(er) wurden, Haupteffekt aber war, dass das Quartier endlich bekam, wofür es sich jahrelang vergeblich bemühte: Busverbindung, Strassenreinigung und Müllabfuhr. Völlig konträr zu ihrer Absicht sorgten die Neonazis dafür, dass die Romas nun besser leben.

Im Schweizer Kontext ist ein Interview von 1979 mit dem damaligen «Atompapst» Michael Kohn illustrativ dafür. Er sagte darin, er sei der Anti-Atom-Bewegung dankbar, denn sie lege ihre Finger auf die wunden Punkte der AKW-Lobby, woraus diese ihre Lehren ziehen könne und so gestärkt werde. Dieser paradoxe Nebeneffekt mag ein Bruch­teil dessen gewesen sein, was gewünscht war, nämlich die Schwächung der Atomlobby, dennoch ist das Prinzip erkennbar: Ein Angriff kann den Gegner auch stärken. Paradox, aber was kurzfristig schwächt, stärkt womöglich langfristig.

Wo gezielt auf die paradoxe Wirkung gesetzt wird

Wie auch immer, jedenfalls gilt, bei Interventionen in menschlichen Systemen, ist die beabsichtige nie die alleinige Wirkung. Unerwünschte vorhersehbare Nebenwirkungen werden mit «flankierenden Massnahmen» aufzufangen versucht. Unvorhergesehene Nebenwirkungen sind oft paradox, weil das Paradox nicht dem üblichen Denken entspricht. Sie sind ungezielt, ausser in zumindest zwei Bereichen, in welchen gezielt auf paradoxe Wirkung gesetzt wird:

Erstens in Therapien: Hierbei wird eine Patientin mit einer Intervention so heftig provoziert, dass sie mit ihrer Reaktion in die Gegenrichtung ausschlägt, welche die eigentlich gewünschte Heilende ist*.

Zweitens bei einer Provokation: Man provoziert den Gegner mit einem überraschenden Angriff zu einer heftigen Gegenreaktion, mit der er sich in der Öffentlichkeit derart blossstellt, dass er verliert. Ähnlich verhält es sich mit einem «Agent Provocateur», d.h. wenn ein in eine Protestgruppe eingeschleuster Spitzel sich «überengagiert», um seinem Auftraggeber, der Polizei, den Anlass zu liefern, hart durchgreifen zu können. Kein Wunder, dass bei besonders heftigen Reaktionen fast immer Verschwörungstheorien aufkommen: So halten sich beispielsweise hartnäckig Gerüchte, dass der Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 vom CIA inszeniert oder zumindest aktiv nicht verhindert worden sei, um der Bush-Regierung die Rechtfertigung zu liefern, den geplanten «war against terror»  auszurufen. Oder noch verschwörerischer: George W. Bush war ein Al Qaida Agent! Denn der Krieg gegen den Terror hat den Terror erst recht und im Sinne von Al Qaida gefördert; der Zustand im Irak jedenfalls ist sehr weit vom erklärten Ziel eines befriedeten Landes entfernt.

Wie aus einem Verbot eine Massenmobilisierung wurde

Ein aktuelles Beispiel einer Provokation ist, dass die Regierung Indiens, aus ihrer Sicht «ausländische» Nichtregierungsorganisationen einschränken oder gar verbieten möchte. Ein besonderer Dorn im Auge des Innenministeriums ist Greenpeace, dessen Konten es sperren liess. Dieser Tabu-Bruch, nämlich die freie Rede im Lande Ghandis einschränken zu wollen, hat eine Ur-Kraft ausgelöst. Zwar gelang es Greenpeace schon zuvor recht gut, z.B. gegen den Kohleabbau zu mobilisieren, aber das ist kein Vergleich zur veritablen Massenmobilisierung, die kürzlich wegen des drohenden Greenpeace-Abbaus geschah: Fast 600 Mobilisierungsevents an einem (Aktions)-Tag – womöglich gar ein Fall fürs Guinessbuch.

Paradoxe Intervetion als Campaigning-Werkzeug?

Paradoxe Wirkungen können eine so ungeheure Energie entwickeln, dass sie Eingespieltes aus der gewohnten Bahn zu werfen vermögen. Warum also nicht gezielt paradoxe Interventionen in der gesellschaftlichen Therapie einzusetzen versuchen? Es läge nahe, zumindest im Gedankenexperiment auszuloten, was für Provokationen oder undercover «agent provocateur»-Aktionen in Kampagnenzusammenhängen möglich wären. Was geschähe, könnte man einen bürgerlichen AKW-Befürworter zu einem ungewinnbaren Vorstoss verführen, mit dem er zum Beispiel verlangte, in den nächsten zehn Jahren drei neue AKWs zu bauen? Den Gegner den berühmten einen Schritt zu weit gehen lassen, bringt das Pendel in die andere Richtung zum Ausschlag. Oder was geschähe, wenn die Umweltverbände dazu aufriefen, endlich die zweite Autoröhre durch den Gotthard zu bohren, z.B. under cover als satirische Intervention?

Paradoxe Interventionen gezielt im politischen Kampf einzusetzen, ist gewiss nicht einfach und auch riskant. Aber bedenkenswert. Zumal konventionelle Interventionen, in welchen mit rationaler Zug-um-Zug-Strategie der Gegner matt gesetzt werden soll, von ihrer Schlagkraft verloren haben könnten. Sollte etwas Innovation nötig sein, weil das Bisherige abgegriffen oder der Online-Reiz verpufft sein könnte: Was wäre zu verlieren, würde versucht, wohlüberlegt paradox zu intervenieren?

Man mag einwenden, dass Interventionen nur dann paradoxe Wirkung provozieren, wenn ein emotionaler Nerv getroffen werde (und nicht bei rationalen Auseinandersetzungen wie das etwa eine Energiestrategie ist). Nur: das Rationale ist oft höchst emotional. Hinter dem Schein der Sache bestimmen letztlich Emotionen unser Tun und Lassen. Einen gesellschaftlichen Nerv nicht nur zu finden, sondern mit Fingerspitzengefühl gezielt zu reizen, ist zugegebenermassen eine hohe paradox-populistische Kunst.

Judo statt Boxen

Eine andere, in eine ähnliche Richtung gehende Taktik wäre, den Gegner statt mit Boxen mit Judo zu bekämpfen, d.h. einen ersten Schritt in die richtige Richtung so stark zu unterstützen, dass ein zweiter folgt. Das mögliche Potenzial zeigt das Beispiel der Affen-Dressur auf. Affen lernen Dinge wider ihre Natur wie etwa Skateboardfahren nur, wenn der Dresseur eine radikale Lobesstrategie anwendet: Schritte in die richtige Richtung werden jedes Mal mit einer Mango belohnt, falsches Verhalten völlig ignoriert. Die Forscherin, die das herausfand, hat diese Erkenntnis übrigens im seit Jahren schwelenden Sockenkampf mit ihrem Mann angewandt. Sie begann ihn konsequent für jedes Mü richtiges Sockenmanagement zu loben und Fehlverhalten zu ignorieren – das Problem war binnen Monatsfrist keines mehr. Daraus könnte man ableiten sich zu fragen, was geschähe, würde man eine Energiekonzern-Chefin fürderhin für gute Taten stets öffentlich loben und ihre Nuklearuntaten ignorieren? Geht gar nicht, hört man es schreien. Was aber verlöre man eigentlich?

Kuno Roth bringt in seiner Kolumne Gedanken zu unserer Gesellschaft in kurzen, pointierten Texten wie Aphorismen, Glossen, Slogans und Gedichten zum Ausdruck. Diese Kolumne des dienstältesten Greenpeace Schweiz-Mitarbeiters erscheint alle paar Wochen und nimmt losen Bezug zu den Themen, die unsere Organisation beschäftigen.

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